szs_weihnachtskalender_7 Himmlische Sonderschicht

Er schaut nach der Zeit, gleich 17.00 Uhr. Geschafft. Erleichtert speichert er seinen Artikel für die Februar-Ausgabe der Zeitschrift ab und fährt den PC runter. Schluss und Feierabend. Er ist der Letzte auf der Etage, alle anderen Kolleginnen und Kollegen sind an diesem 24. Dezember bereits ins lange Weihnachtswochenende gestartet. Er schließt die Fenster, dreht die Heizung runter, gibt seinen Pflanzen noch einen kräftigen Schluck Wasser. Dann zieht er den Mantel an und wickelt sich den langen Schal zweimal um den Hals – es ist heute lausig kalt da draußen. Er macht das Licht aus und schließt die Bürotür hinter sich ab. Der Fahrstuhl braucht ein bisschen, ehe er sich öffnet und ihn nach unten befördert. Mit hochgezogenen Schultern stemmt er sich gegen den scharfen Wind, der ihm auf dem Weg zu seinem Auto ins Gesicht pfeift. Fühlt sich nach Regen oder Schnee an, denkt er und schwingt sich hinter das Lenkrad. Bevor er den Motor anlässt, ruft er die Frau an, die er mag: Ich fahre jetzt los, in einer guten Stunde bin ich bei euch.

Die Autobahn, die ihn von der Stadt, in der er arbeitet, zu jener in der er wohnt bringt, ist ihm vertraut. Seit sein Arbeitsplatz in diese Stadt verlegt wurde, fährt er jedes Wochenende auf ihr nach Hause.

Es beginnt zu regnen, und wenig später gießt es in Strömen. Erste kleine Schneeflocken wirbeln dazwischen. Die Sicht wird extrem schlecht. Auf den drei Fahrspuren donnern LKW und PKW dem Weihnachtsfest entgegen, überholen seinen kleinen Wagen immer wieder rücksichtslos. Leise flucht er, wenn sekundenlang Wasserfontänen seine Windschutzscheibe fluten, ehe die Scheibenwischer mit der höchsten Geschwindigkeitsstufe und hektischem tschaptschap, tschaptschap den Blick wieder auf die Fahrbahn ermöglichen. Konzentriert hält er die Spur, ab und zu setzt auch er zum Überholen an, wenn sehr langsam Fahrende ihn auf der rechten Fahrbahn ausbremsen. Er schaltet das Radio an. Ein Weihnachtslied läuft. In Gedanken lässt er noch einmal die Geschenke für seine Lieben Revue passieren – ja, er ist sicher, er hat wieder für alle das Richtige gefunden und freut sich schon auf die erwartungsvollen Gesichter seiner Kinder beim Auswickeln der Päckchen nach der Bescherung. Ob die Frau, die er mag, den Tannenbaum schon geschmückt hat? Ob die Gans bereits in der Röhre brutzelt? Ach, es geht doch viel Vertrautes an ihm vorbei, seit er ein Parallelleben in dieser anderen Stadt führen muss. Er freut sich sehr auf die Zeit mit seiner Familie.

Sein kleiner Wagen kämpft sich so schnell er kann durch den diesigen Regenvorhang. Das laute Dröhnen seines Motors verschluckt fast eine Verkehrsmeldung, die vor einem neuen Baustellenbereich warnt. Er versteht akustisch nicht, wo diese Gefahrenstelle liegt.

Gerade plant er, einen LKW zu überholen und sondiert aufmerksam die Lage hinter sich im Rück- und Seitenspiegel. Da plötzlich, ohne Vorwarnung, verstummt das Radio. Stille, kein Motorengeräusch mehr, kein Licht am Armaturenbrett, kein Scheinwerferlicht, nur sein langsam ausrollendes Auto, das er geistesgegenwärtig mit den letzten Räder-Umdrehungen in Richtung Standspur zu lenken versucht. Sekundenlang stockt ihm der Atem, sein Herz rast. Aber das Glück ist auf seiner Seite. Eine Armada von Schutzengeln umkreist sein unbeleuchtetes Auto. Oder sind es an diesem Heiligen Abend doch eher Weihnachtsengel, die zu einer Sonderschicht herbei gerufen wurden? Sie rollen seinen Wagen in die gerade hier beginnende Abfahrt hinunter. Dort bleibt er mit einem Ruck endgültig stehen.

Was der Mann in diesem Moment noch nicht weiß, ist, dass nur wenige Kilometer weiter die im Radio angekündigte einspurige Baustelle beginnt. Da hätte er keine Chance zum Ausweichen gehabt!

Benommen löst er sich aus der Schockstarre, lauscht nach draußen. Auf der Autobahn über ihm rauscht der Verkehr ungebremst durch die Dunkelheit. Keiner hätte dort vor einer Minute mit einem unbeleuchtet liegen gebliebenen Fahrzeug auf der Fahrbahn gerechnet. Mein Gott, mir ist nichts passiert, ist sein erster, klarer Gedanke, den er fassen kann. Und – das hier ist Weihnachten, hier in dieser regennassen Finsternis findet gerade mein ganz persönliches Weihnachtsfest statt. Ich hab‘ was geschenkt bekommen, das durch keine Gabe unterm Weihnachtsbaum zu toppen ist: Ein zweites Leben. Er springt aus dem Auto, wirft die Arme zum Himmel und schreit in die Nacht: Heute und hier beginnt mein zweites Leben.

Der Regen ist in nasse Schneeflocken übergegangen, die auf seinen salzigen Wangen schmelzen.

Er ruft die Frau an, die er mag.

Angelika Lindenthal
ehrenamtliche Redakteurin der Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf