– gerade die Kinder brauchen Perspektiven

Ulrich_Schneider_2_LA_03.10.13 15,2 % der Bevölkerung in Deutschland waren im Jahr 2011 armutsgefährdet. Ihr Einkommen lag unter 60 % des Durchschnittseinkommens. Dies sind immerhin rund 12 Millionen Menschen – ein Höchststand im wiedervereinten Deutschland. Zunehmende Perspektivlosigkeit ist es , die die neue Einkommensarmut  kennzeichnet und ihre besondere Brisanz begründet.

Rund ¾  der Hartz-IV-Bezieher sind bereits ein Jahr und länger auf diese Hilfe angewiesen. Etwa über die Hälfte ist es sogar bereits 2 Jahre und länger  Mit dem berühmten „Trampolin“ oder dem „Sprungbrett in den Arbeitsmarkt“, als das uns Hartz IV politisch schöngeredet werden sollte, haben diese Zahlen nichts zu tun.

Es ist eine zerstörerische Wirkung, die von dieser Perspektivlosigkeit ausgeht.  Arbeit ist bekanntermaßen mehr als Gelderwerb. Arbeit strukturiert unseren Alltag, Arbeit prägt unsere Familienstrukturen, Arbeit gibt uns Rollenbilder, Arbeit ist mit Status verbunden und prägt sogar einen Großteil unserer Eitelkeiten. Nach wie vor leben wir in einer Arbeitsgesellschaft mit ausgesprochenem Arbeitsethos. Der Fall in die Arbeitslosigkeit bedeutet daher weit mehr als Einkommensverlust. Der Fall in die Arbeitslosigkeit bedeutet geradezu einen Zusammenbruch von zum Teil seit Jahrzehnten gelebten Routinen und Selbstbildern. Entscheidend dafür, wir dieser Absturz wahrgenommen wird, ist die Perspektive, die der einzelne hat. Ob es sich lediglich um eine „Durstrecke“ handelt, deren Ende bereits absehbar ist oder ob keinerlei Ausweg in Sicht ist, ist entscheidend für das Erleben und die persönliche Entwicklung, die nicht selten von Existenzängsten geprägt ist und irgendwann dem Gefühl, einfach nicht mehr dazuzugehören.

Gerade Kinder brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit und die verheißungsvolle Perspektive für ihre Entwicklung wie die Luft zum Atmen Viele Pädagogen werden es bestätigen: Erst die Orientierung auf die Zukunft und die Freude auf den morgigen Tag schaffen die Energie und die seelische Bewegung, die das Kind zu seiner Entfaltung braucht. Die subjektive Vorwegnahme künftiger Optionen durch das Kind ist ständiger Antrieb und Motor von Entwicklung. Wer Kindern jedoch den Glauben an die Perspektive und die Freude auf das Morgen nimmt, lässt Energien versiegen, raubt dem Kind die Kindheit und nimmt dem Pädagogen jede Chance zur Bildung und Erziehung.

Fraglich ist jedoch, woher Kinder und Jugendliche ihren Glauben an Perspektiven nehmen sollen, wenn sie miterleben, wie ihre älteren Geschwister sich hundertfach erfolglos bewerben, und wie sie zu der Überzeugung gelangen sollen, ihre Zukunft selbst in der Hand zu haben, wenn sie erleben müssen, wie ihre Eltern schon über Jahre erfolglos versuchen, aus Hartz IV herauszukommen, aber immer wieder scheitern? Wie sollen diese Kinder Lebensmut entwickeln, wenn zu Hause Resignation und Frust herrsche?

Wir haben Regionen in Deutschland, in denen jedes dritte Kind von Hartz IV lebt. In unserer Hauptstadt Berlin sind es sogar 35 Prozent  Wir können uns heute noch gar keine rechte Vorstellung davon machen, was es für die Entwicklung eines Kindes bedeutet, wenn nicht nur die eigenen Eltern und die Nachbarn jahrelang ohne Arbeit sind, sondern der halbe Stadtteil; wenn Arbeitslosigkeit und Hartz IV der Normalfall sind und die Erwerbstätigkeit die Ausnahme bleibt. Wir sollten uns vor Augen halten, dass in Deutschland in großer Zahl Kinder heranwachsen, die die Situation, dass morgens alle das Haus verlassen, weil sie zur Arbeit oder zur Schule gehen, am ehesten noch aus dem Fernsehen kennen, aber nicht aus dem persönlichen Umfeld.

So wichtig Bildung und Bildungsabschlüsse in dieser Erwerbsgesellschaft für die Chancen unserer Schüler auch sind – es sind abstrakte Möglichkeiten. Für denjenigen, dem die Schule leicht fällt, der Unterstützung von zu Hause erfährt und für den die Erwerbstätigkeit seiner Eltern etwas ganz Selbstverständliches ist, scheinen sie während der gesamten Schulzeit greifbar und fast selbstverständlich. Wer jedoch keine guten Startvoraussetzungen mitbringt, wer schon aufgrund der Einkommenssituation seiner Eltern ausgegrenzt ist und mit der Erfahrung der schier aussichtslos wirkenden Arbeitssuche seiner Eltern und der genauso deprimierenden Lehrstellensuche seiner älteren Geschwister aufwächst, für den bleiben sie immer abstrakt. Es kann nicht funktionieren, ein Kind oder einen Jugendlichen zu – aus seiner Sicht – sinnlosen Anstrengung motivieren zu wollen. Um Kinder- und Jugendliche aus sozial unterprivilegierten Umfeldern zu motivieren, müssen die Perspektiven konkret und damit glaubhaft sein.

Unsere Sozial- und Bildungspolitik wird nur dann eine Antwort auf die Armutsfrage finden, wenn sie den Armen ganz konkrete Perspektiven bietet und nicht lediglich irgendwelche Bildungsinhalte vermittelt. Bildung mag die notwendige Bedingung sein, die ganz konkrete Perspektive die hinreichende. Wir können nur erahnen, was es für das Klima, die Lernbereitschaft und die Leistungsfähigkeit an unseren Hauptschulen bedeuten würden, wenn wir jedem Schüler und jeder Schülerin einen ganz konkreten Ausbildungsplatz versprechen könnten, wenn die Leistung halbwegs stimmt. Gleiches gilt genauso  für all die sogenannten Maßnahmen und sozialpädagogischen Hilfen für junge Menschen in Hartz IV – vom Sprachkurs über Bewerbungstraining bis hin zum Ein-Euro-Job, wären sie tatsächlich auf ein ganz konkretes Ziel hin geplant und organisiert, nämlich auf den Ausbildungsplatz oder Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Unsere Gesellschaft ist im Begriff, regional und sozial auseinander zu brechen. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind an ihren Grenzen angelangt. Alle bildungs-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen müssen folglich danach befragt werden, ob sie die Menschen vor Einkommensarmut und Ausgrenzung bewahren und ob sie konkrete Perspektiven schaffen. Perspektiven für die Armen, Perspektiven für diese Gesellschaft.

Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätische Gesamtverband
Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf, Nr. 171, Oktober 2013
Foto: Der Paritätische Gesamtverband

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