Seit dem letzten Herbst unterrichte ich hier im Stadtteilzentrum Steglitz e.V. Flüchtlinge in Deutsch. Bis dahin hatte ich noch keinen Kontakt zu Menschen aus dem arabischen oder ostafrikanischen Kulturraum, aber als ich die Bilder der Flüchtlinge sah und zugleich die vielen ablehnenden und skeptischen Stimmen hörte, wollte ich dem etwas entgegensetzen. Ich bin froh in einem Land zu leben, in dem das Grundgesetz gilt, auch mit dem Recht auf Asyl. Ich fand es richtig, im letzten Jahr Menschen in Not in Deutschland aufzunehmen, ethisch statt politisch kalkulierend zu handeln und ich fühlte  mich mit verantwortlich.

So habe ich mit einem Alphabetisierungskurs für Männer begonnen, zunächst mit durchaus gemischten Gefühlen. Wie würden die vor allem islamischen Männer sich bei einer Lehrerin verhalten? Würden sie mich respektieren? – Aber diese Bedenken waren unnötig, alle waren sehr höflich und es gab nie ein Akzeptanzproblem. Allerdings dauerte es lange, bis sie sich an Pünktlichkeit und Verbindlichkeit gewöhnten. Sie kamen oft zu spät oder zwischendurch auch gar nicht, ohne Bescheid zu sagen. Das ist in Syrien und Eritrea ein normales, akzeptiertes Verhalten, doch es hat meinen Unterricht gestört und mich sehr geärgert.

Ein besonderes Erlebnis dieser ersten Monate war für mich, als Hidru, ein junger Mann aus Eritrea, seinen ersten Satz las. Er hatte noch nie eine Schule besucht. Wochenlang haben wir die einzelnen Buchstaben und Silben geübt. Es fiel ihm nicht leicht, doch plötzlich war der Knoten geplatzt. Wir sahen uns an und lachten lange zusammen. Ich war von seiner Freude tief berührt. Hidru kam bald darauf in eine andere Unterkunft – doch seinen Blick und sein Lachen nach dem ersten Satz werde ich nicht vergessen.

Danach übernahm ich einen Basiskurs Deutsch, vier Stunden an jedem Wochentag. Meine Schüler habe ich in dieser intensiven Zeit gut kennengelernt. Durch den täglichen Kontakt war ich zur Vertrauensperson geworden. Zwei meiner Schüler waren wegen Traumata in therapeutischer Behandlung, von drei Schülern starben während dieser Zeit nahe Verwandte bei Angriffen in Syrien. Ich bekam viel mit und diese Gespräche nach dem Unterricht gingen mir zuerst sehr nahe, aber nach einiger Zeit lernte ich, damit umzugehen.

schwingeler2 Aber ich lernte auch ihre Hoffnungen kennen. Zwei von ihnen, Rua’a aus Syrien und Tesfaalem aus Eritrea, träumen davon, in einem Jahr hier in Berlin ihr Studium fortzusetzen. Da die beiden auf einen Kurs an der Humbold Universität warten, habe ich für sie den Unterricht fortgeführt. Kurz
darauf kam noch Hadjar aus Afghanistan dazu. Immer wenn ich ihre Fortschritte sehe, bei der Sprache, aber auch bei dem immer selbstverständlicher werdenden Umgang miteinander hier in Deutschland, freue ich mich sehr und habe Spaß daran, diese Arbeit weiter zu führen. Zwei Stunden treffen wir uns jeden Tag. Satzstellung, Nebensätze, Präpositionen sind unser Thema, aber auch: Wo kann man in Berlin kostenlos schwimmen? Wie bekomme ich ein Bankkonto? Wie finde ich einen Kitaplatz? Wie finden wir eine Wohnung?

Bei vielem reicht eine Erklärung, doch nicht mehr bei einem Kindergartenplatz oder der Wohnungssuche. Als mich Roua’a nach einen Kitaplatz für ihre zwei kleinen Schwestern fragte, war es bereits Mitte Juni. So habe ich alle Kindergärten im näheren Umkreis angerufen. Tatsächlich bekam ich eine Zusage, doch musste der Vertrag in derselben Woche unterschrieben werden. Es fehlte noch der Kita-Gutschein, die zuständige Sachbearbeiterin war krank, die Vertretung so überfordert, dass sie keinen Antrag vorziehen wollte. Das „normale“ Chaos der Berliner Bürokratie. Zum Glück nahm sich eine hilfsbereite Vorgesetzte persönlich des Falls an und mailte ganz unbürokratisch den Gutschein zu. Jetzt sind die Zwillinge kleine „Schlosskobolde“ und ihr Leben ist ein ganzes Stück leichter und fröhlicher geworden. Roua’a erzählt, dass sie gerne zur Kita gehen und nun
ständig deutsch sprechen wollen.

Über diesen Erfolg kann ich mich immer noch freuen und es hilft mir, an ihn zu denken, um nicht frustriert zu sein, wenn andere Dinge nicht klappen. Denn die Suche nach einer Fünf-Zimmer-Wohnung für Roua’as große Familie bleibt auch nach Monaten noch immer erfolglos.

Auch wenn mein Verantwortungsgefühl bei meinem Ehrenamt eine wichtige Rolle spielte, hat mir der Unterricht von Beginn an auch Spaß und Freude gemacht. Ich unterrichte gerne. Es ist ein schönes Gefühl, etwas verändern und andere unterstützen zu können, das für mich all die Zeit und Mühe wert ist.

Sabine Schwingeler

szs_mittelpunkt_september-2016_titelEin Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ September/Oktober 2016 mit dem Leitthema „Bürgerschaftliches Engagement“
Das ganze Magazin können Sie als eBook oder interaktives Pdf herunterladen, die gedruckte Version, einschließlich dem Einleger mit allen Veranstaltungen des SzS, finden Sie in unseren Einrichtungen.